»Städtischer Geist«
Fabriken, Tanzpavillon, Beamtensiedlung: Im Zentrum des Oderbruchs gelegen, schrieb man Letschin einst »in allen Wesenszügen kleinstädtische Verhältnisse« zu. Wie ein Dorf fast einmal Stadt wurde.
Letschin ist eine amtsfreie Gemeinde, so heißt das heute offiziell. Sie gliedert sich in zehn Ortsteile, die zum Teil selbst wiederum aus mehreren Orten bestehen, hinzu kommen so genannte Wohnplätze. So kommt man auf insgesamt über 40 Namen, darunter so schöne wie Posedin, Wollup, Solikante oder Basta. Das heutige Letschin entstand 2003 per Zusammenschluss von bis dahin elf selbstständigen Gemeinden. Ende 2024 waren 3.735 Menschen hier gemeldet, sie verteilen sich auf 142 Quadratkilometer. Im Ranking der Bevölkerungsdichte findet man Letschin damit ziemlich weit hinten. »Ländlich« ist gewissermaßen fast noch untertrieben für unsere Gegend.
Und doch ist Letschin beinahe einmal Stadt geworden. Dafür muss man eine »größere, geschlossene Siedlung« sein, die einen »verwaltungsmäßigen, wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt eines Gebietes darstellt«. Beim Land Brandenburg heißt es außerdem, als »Voraussetzung für die Verleihung des Stadtrechtes« solle »im äußeren Entwicklungsraum eine Einwohnerzahl von mindestens 5.000 zugrunde gelegt werden«. Das erreicht die Riesengemeinde Letschin bei weitem nicht.
Aber das war einmal anders. 1863 hat die Gemeinde, damals noch vor der flächenmäßigen Ausweitung, die Marktgerechtigkeit erhalten und vielfach wurde sein kleinstädtische Charakter mit vielen Gewerken, Geschäften, Gaststätten, Hotels, Festsälen, Schulen und so weiter gerühmt. Über Jahrhunderte ein Bauerndorf, wuchs und entwickelte sich Letschin über das rein Dörfliche hinaus: Handelsbetriebe, Fabriken, der Post- und der Bahnanschluss erzählen davon.
Und Fontane: In seinem »Unterm Birnbaum« von 1885 wird das fiktive Tschechin zum »großen und reichen Oderbruchdorfe«. Nach der Seperation, bei der Bauern ihre Höfe weit draußen rund um Loose-Gehöfte neu errichteten, wuchs Letschin schnell an: Zählte man 1801 noch 1.200 Seelen, waren es 1840 schon 2.600. Die freigezogene Dorfmitte bot Ansiedlungsmöglichkeiten für Handwerker und Händler. Der ökonomische Aufschwung zeigte sich auch im Stadtbild, sorry, Dorfbild: Bis 1900 wurden viele kleinere Wohngebäude durch neue, nun oft zweistöckige Häuser ersetzt oder vergrößert. Letschin erhielt einen Tennisplatz, einen Tanzpavillon, eine Beamten- und eine Arbeitersiedlung… 1871 wurde im Dorf Letschin mit über 3.600 Einwohnerinnen und Einwohnern der Höchststand erreicht.
In einem Zeitungsbeitrag kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs heißt es über Letschin, dass »dessen Antlitz in allen Wesenszügen dem Kleinstädtischer Verhältnisse entspricht. Städtischen Eindruck machen die freundlichen von Baumreihen und Gaslaternen flankierten Straßenzuge, die mit Denkmälern geschmückten Anlagen, die großen Schulgebäude, der prächtige Spielplatz, die beschaulichen Häuser, die zahlreichen Gasthäuser, die mit hellen Schaufenstern versehenen jeglichen Bedürfnissen genügenden Kaufläden, die fliesenbelegten Bürgersteige, die breiten Fahrdämme und nicht zuletzt der tagsüber pulsierende reiche Verkehr; städtischen Geist atmet auch das Innenleben«, ja, »über dem Gesamtbilde liegt wohlige Behäbigkeit ausgebreitet«.
Heute hat die große, Zug um Zug durch Eingemeindungen ausgeweitete Gemeinde Letschin mit ihren zehn Ortsteilen nicht viel mehr Bewohner als das Dorf Letschin Ende des 19. Jahrhundert. Manches Kleinstädtische hat sich erhalten, anderes lebt in der Erinnerung fort. Die Beziehungen zu Städten, das gegenseitige Aufeinander-Einwirken, all das ist geblieben. Und noch heute ziehen Städter hierher - und Letschinerinnen und Letschiner in die Stadt.
»Herz des Oderbruchs« nennt sich Letschin, man könnte hinzufügen: es liegt im Zentrum des Oderbruchs, so ziemlich auf der Mitte zwischen Oberbruch und Niederbruch. Aber ist nicht Wriezen die »heimliche Hauptstadt« des Oderbruchs? Um Konkurrenz soll es hier nicht gehen. Die Region ist groß und vielfältig genug, die Geschichte reich und bunt, die Ortschaften einzigartig und doch verbunden. Durch Tradition und Transformation, durch Natur und von Menschen gemachte Landschaft, durch Handwerk, Landwirtschaft, Kunst und Kultur.
»Im Selbstverständnis freier, ihre Existenz selbst verantwortender Bauern, prägen die Kolonisten auch in der Gegenwart eine ländliche Demokratie, die sich durch eine hohe kulturelle und kommunalpolitische Vitalität auszeichnet. Seit der Preußischen Binnenkolonisation des 18. Jahrhunderts ist die Bevölkerung des Oderbruchs bis heute immer wieder durch Zuwanderung bereichert worden«, heißt es beim Oderbruch-Museum Altranft. Ein »Klein-Europa« mit zwischen West- und Osteuropa, eine Region, die »exemplarisch für die Zukunft des ländlichen Raums« steht. Ganz egal, ob nun Stadt, Gemeinde, Dorf oder Wohnplatz…