Sally Guraus Warenhaus

Auf den Spuren von Sally Selig Gurau, der in Letschin ein kleines Warenhaus betrieb. Im Holocaust wurde der jüdische Kaufmann von den Nazis ermordet.

Sally Guraus Warenhaus

Im Zentrum der folgenden Skizze steht Sally Selig Gurau. Er betrieb Anfang des 20. Jahrhunderts in Letschin ein Herrenaustattergeschäft. Die Guraus waren dort und in Kienitz ansässig, heißt es in der Ortschronik,1 und zwar »schon 1700 in Kienitz«.2 Und Klaus Scheurenberg erinnert sich: »Letschin, Marktflecken, Kreis Lebus, Oderbruch, 3.000 Einwohner, davon vier Juden. Außer meinen Eltern wohnten noch die Guhraus dort, die ein Schuhgeschäft betrieben. Sie waren die eigentlichen Dorfjuden.«3 

Sally wurde im Holocaust ermordet. Geboren am 1. Februar 1869 in Reitwein, war sein letzter Wohnort vor der Deportation ins KZ Theresienstadt die Berliner Straße in Seelow. Im Ghetto war er in Gebäude L 102 untergebracht.4 Laut seinem Totenschein starb Sally am 29. Oktober 1942 um 5 Uhr früh; als Todesursache ist »Enteritis - Darmkatarrh« angegeben.5 

Wie ihn haben die Nazis Angehörige seiner Familie ermordet. Seine Schwester Helene Rosenthal wurde aus Berlin ins KZ Theresienstadt verschleppt. Auf dem Totenschein ist Erschöpfung durch Kachexie verzeichnet; die Nazis hatten Helene, die am 13. September 1876 in Kienitz geboren worden war, verhungern lassen. Ihr Tod wurde am 22. November 1942 um 4 Uhr früh festgestellt, eine Stunde später war sie bereits »beigesetzt«.6 

Sally gehörte »zu den jüdischen Geschäftsleuten, an die sich heute noch alte Letschiner erinnern«, so die Ortschronik.7 Er »ließ sich 1896 von Maurermeister (Carl) Schüler in der Hauptstraße von Letschin, heute Karl-Marx-Straße 9, ein Haus bauen und eröffnete ein Herrenaustattergeschäft.« Gestartet war Gurau offenbar mit einem kleinen Warenhaus; »eine Anzeige von 1905 zeigt die Palette des Warenangebots, später war es hauptsächlich Herrenbekleidung«.8

Sally »war Kriegsteilnehmer im 1. Weltkrieg und war Träger des Eisernen Kreuzes erster Klasse. Diese Auszeichnung bedeutet zu Beginn der Judenverfolgungen noch eine kurze Zeit einen gewissen Schutz, aber auch die Juden, die 1914 bis 1918 für Kaiser und Vaterland ihr Leben riskiert hatten, wurden bald von Verfolgung und Ermordung nicht verschont.«

»1935 soll Sally Gurau mit seinem Kaufhaus in Konkurs gegangen sein. Das ist schon möglich, aber der Grund ist der Boykott jüdischer Geschäfte«, so die Letschiner Chronik. Im »Deutschen Reichsanzeiger« liest man, das am 10. April 1935 »über das Vermögen des Kaufmanns Sally Gurau in Letschin« ein Konkursverfahren eröffnet wurde, »da der Gemeinschuldener seine Zahlungsunfähigkeit dargetan hat. Der Bücherrevisor Max Bits in Seelow wird zum Konkursverwalter ernannt.«9 

Weiter in der Letschiner Chronik: »1935 kaufte Wirth das Haus der Familie Gurau, die dann in ein Haus in der Bahnhofstraße zog.«10 Band II wird zu Sallys Warenhaus und zu Wirth genauer: »1935 wurde sein Geschäft in den Konkurs getrieben. Er verkaufte noch etwa ein Jahr lang Säcke und Planen und fuhr damit über Land.11 Das Grundstück von Gurau erwarb 1936 Reinhold Wirth und vermietete es. Später eröffnete das Eisenwarengeschäft Colla aus Wriezen im rechten Hausteil eine Nebenstelle und führte diese bis 1945. Zum Verkauf wurden neben Werkzeugen, Schrauben und Nägeln auch Eimern, Wannen u.ä. angeboten. In der linken Haushälfte waren die Friseure (Horst) Wichert und (Willi) Witte. Das Haus war 1945 durch Beschuss völlig zerstört worden. Nach dem Aufbau des Hauses zog zunächst die Sparkasse ein. Reinhold Wirth, der Besitzer des Hauses, eröffnete 1949 eine Drogerie und führe diese bis zum Jahre 1984.«12

Im Haus Karl-Marx-Straße 9, das LC V als Standort von Sallys Warenhaus angibt, hat Hans-Jürgen Bresch zuletzt ein Küchenmöbelgeschäft und ein Reisebüro betrieben; die aktuelle Nutzung bleibt offen.

Interessanter Weise befand sich gleich rechts neben Sallys Warenhaus im »Eckhaus Wollin« die »Buch- und Papierhandlung« von Max Wirth. Diese geht auf eine Gründung aus dem Jahre 1865 durch den Buchbinder Julius Wirth zurück; Sohn Max übernahm das Geschäft 1896. 1905 erfolgte der Einzug in die heutige Karl-Marx-Straße 10/11. Dort verkaufte Max Wirth »Papier- und Schreibwaren, Bücher und anderes. 1936 gab die Familie das Geschäft auf«, so die Ortschronik.13

Dies erfolgte aber offenbar schon im Jahr zuvor und damit im selben, in dem auch Sally in den Konkurs getrieben worden war. Im »Börsenblatt für den deutschen Buchhandel« vom  24. Oktober 1935 ist verzeichnet: »Wirth, Max, Letschin (Oderbruch), erloschen«.14 Es findet sich außerdem ein Hinweis auf einen »Hypothekenbrief für das Grundstück in Letschin, Bd. 2, Bl. 59 Eigentümer: Wirth, Max Oskar Gustav (1931-1941)« im Brandenburgischen Landeshauptarchiv.15

Weiter in der Letschiner Chronik: »In der sogenannten Reichskristallnacht am 9. November 1983 soll es auswärtige SA gewesen sein, die in Letschin die jüdischen Geschäfte und Häuser verwüstete. Ein Zeitzeuge, der damals daran beteiligt war, erzählte, dass die SA Letschiner Jungen aus der Hitlerjugend zusammen sammelte und mit ihnen vor das Haus in der Bahnhofstraße 12 zog. Die Jungen wurden ermutig, die Fensterscheiben einzuwerfen. In dem Haus wohnte die Familie Gurau, nachdem sie ihr Haus in der Hauptstraße verloren hatte. (…) Dass der Bäcker Vogel dem Juden Sally Gurau immer hinten herum aus der Backstube Weißbrot zusteckte, das Juden nicht mehr kaufen durften, daran erinnert man sich, auch daran, dass Engwicht die Guraus ›bis zum Schluss‹ mit Lebensmitteln unterstützt hat.«16 

Max Vogel hatte von 1912 bis 1953 ein »gut florierendes Geschäft« mit Laden »Fontanestraße Ecke Sophientaler Straße«. Gemeint ist hier offenbar Hauptstraße/Karl-Marx-Straße Ecke Sophienthaler Straße, denn diese hat keine Kreuzung zur Fontanestraße. Außerdem heißt es in der Letschiner Chronik weiter: »Bis 1930 befand sich der Eingang des Ladens gleich rechts neben dem Apothekeneingang. Nach der Verlegung des Eingangs an die Hausecke entstand eine Kaffeestube. Auch selbstgemachtes Eis wurde angeboten. AB 1954 führte Otto Barbknecht, der bei Vogel schon als Geselle tätig war, die Bäckerei weiter. Seit 1987 ist der Bäckereibetrieb eingestellt.«17

Wilhelm Engwicht hatte von 1930 bis Mitte 1963 in seinem Haus in der Fontanestraße (heute Nr.14) »ein kleines Lebensgeschäft für Lebensmittel und Getränke«.18 Von 1940 bis 1942 sei Engwicht »als ambulanter Händler« in Letschin und Umgebung anzutreffen gewesen. »Begonnen hat er mit einem Bierverlag einer Brauerei in Berlin-Friedrichshain. Mit Pferd und Wagen brachte er die Bierfässer und Flaschenware zu den Gastwirtschaften und Kolonialwarenläden.« Das Grundstück - heute schräg gegenüber der Eisdiele gelegen - hatte Engwicht um 1913 von den jüdischen Händlern Löwenthal und Scheurenberg erworben. Später erweiterte er sein Angebot um Futtermittel, Kohlen, Mühlenprodukten und Altstoffen.19

Louis Löwenthal20 hatte nach 1860 in Berlin eine Posamenten-Handlung eröffnet. »Der Laden wurde zur Großhandlung. Großvater wurde schnell reich«, erinnert sich Klaus Scheurenberg, geboren 1925. Louis Löwenthal21 »stammte aus dem Oderbruch und hatte als junger Mann Zigarrenrolle gelernt«, und hatte schließlich »mit ein paar Mark gesparten Geldes in der Tasche« sein Glück in Berlin gesucht. Klaus Scheurenbergs Mutter Lucie Löwenthal, geboren 1988, lernte ihren Mann Paul schon zu Kindertagen in Letschin kennen. Später hatte er ihr aus dem Ersten Weltkrieg »nette Briefe geschrieben, und sie hatte ihm Feldpostpäckchen gesandt, vielleicht mit Selbstgestricktem.« Obwohl soziale Unterschiede zwischen beiden bestanden - »so ein Bauernlümmel, wenn auch jüdisch, war doch für die Löwenthals nicht fein genug« - heirateten die Eltern von Klaus Scheurenberg 1919 in Berlin. 

Paul Scheurenberg hatte »nach dem (Ersten Welt-)Krieg in Letschin die Fell- und Pferdehandlung Löwenthal und Scheurenberg« übernommen. Paul Scheurenberg war 1925 Schützenkönig in Letschin. »Dass er Jude war merkte man kaum. Er soff mit den anderen in der Kneipe ›Zum Alten Fritzen‹ und war mit jedermanns Freund«, erinnert sich Sohn Klaus. »Völkisch angehaut war er auch, wie man meinte. In Wirklichkeit war er politisch ahnungslose. Ein großer Teil seines Geschäfts wurde in der Kneipe abgewickelt. Hier wurde er sich mit den Schlächtern und Großbauern einig.«22

Die Scheurenbergs wurden 1942 von den Nazis ins KZ Theresienstadt verschleppt, Klaus und die Eltern überlebten. Klaus’ Schwester Liselotte Hanna Lisa Chotzen, geboren 1920, wurde am 29. Juni 1943 aus Berlin erst nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert; sie wurde im KZ Bergen-Belsen ermordet.23

Zum Schicksal der Familie Gurau im Holocaust heißt es in der »Letschiner Chronik«: »Ob die Familie später deportiert wurde, ob sie vielleicht noch rechtzeitig flüchten konnte, daran erinnert sich niemand. Einige Familienmitglieder haben wir in den Opferlisten von Yad Vashem, der Gedenkstätte der Judenvernichtung in Jerusalem, gefunden.« Die Angaben sind allerdings zum Teil ungenau oder es bleiben die verwandtschaftlichen Beziehungen unklar. Was wissen wir?

Am 19. Mai 1905 wird in Letschin Bernhard Gurau geboren.  Er war »einst Schüler der Letschiner Privatschule, von seinen Mitschülern Smurri genannt«.24 LC V nennt ihn Sohn des Sally (Gurau). Aus dem »Aufbau« wissen wir, dass Smurri den Holocaust überlebt hat. Er findet sich dort im November 1945 in einer »von der Jüdischen Gemeinde in Berlin zusammengestellten Liste von Juden«, die aus den KZ zurückkehren konnten bzw. »wegen des Deportationsbefehls zirka drei Jahre versteckt gelebt haben«. Bernhard Gurau hat zu diesem Zeitpunkt in Lichterfelde-West in der Baselerstr. 44 gewohnt.25

Am 10. Juli 1897 wird in Letschin ein Bruno Gurau geboren. Wir wissen, dass er bis zum 13. Dezember 1938 ins KZ Sachsenhausen verschleppt war; es findet sich ein Entlassungsdokument.26 Im Mai 1942 wurde er ins Warschauer Ghetto deportiert. LC V führt auch einen Bruno Gurau auf; dieser aber ist 1886 geboren: »Dass er in Letschin gelebt hat, beweist sein Name auf Anwesenheitslisten der Letschiner Schützengilde von 1931 und 1933. Dann verschwindet sein Name von diesen Listen. Er wurde nach Auschwitz deportiert. In einer Liste der ermordeten deutschen Juden wird sein Name aufgeführt.«27 Womöglich handelt es sich um einen Übertragungsfehler. Im »Memorial Book« ist ein am 7. Februar 1886 in Berlin geborener Bruno Gurau verzeichnet, der in Prenzlauer Berg und Wilmersdorf lebte und am 6. März 1943 nach Auschwitz verschleppt wurde. Dort verliert sich die Spur.28 Der Letschiner Bruno Gurau, der durch die Schützengilde belegt ist, dürfte daher der 1897 geborene sein. Ob dieser mit Sally verwandt war, bleibt offen.

In der Ortschronik werden zu den (Letschiner?) Holocaustopfern außerdem gezählt: »Emma Gurau 1862 geborene Cohn, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und ist dort gestorben. Johanna Kroner, 1877 geborene Gurau, wurde von Berlin aus deportiert und starb im Rigaer Ghetto.« 

Was wissen wir über die beiden? Emma Gurau wurde am 27. Januar 1862 geboren; als ihr Todesdatum ist der 27. August 1942; sie war erst wenige Tage zuvor von Berlin nach Theresienstadt, dort in das Gebäude Q 319 verschleppt worden; als Datum des Transports ist der 18. August 1942 verzeichnet.29 Der Totenschein, der »Herzschwäche« ausweist, enthält allerdings keinen Hinweis auf den Geburtsort, lediglich ist Berlin als letzter Aufenthaltsort vor der Deportation registriert. Allerdings findet sich im Berliner Handelsregister von 1921 ein Hinweis auf die 1909 eingetragene Firma E. Gurau & Co., die »Tuche, Buckskins en gros« handelte, bei letzteren handelt es sich um ein kräftig gewalktes Streichgarngewebe. Dort sind auch »Emma Gurau geb. Cohn« und ein »Paul Cohn« sowie die Adresse Münzstraße 11 verzeichnet.30 In welcher verwandtschaftlichen Beziehung Emma Gurau zu Sally stand, bleibt offen.

Das gilt auch für Johanna Kroner, geborene Gurau, die in LC V genannt wird. Sie wurde am 22. Februar 1877 in Blesen (Bledzew) geboren, das liegt etwa 85 Kilometer östlich von Letschin. Später lebte sie in Charlottenburg. Als Datum ihrer Deportation nach Riga durch die Nazis ist der 15. August 1942 registriert, sie starb dort bereits am 18. August 1942.31

Blesen gibt allerdings ein wichtiges Stichwort. Im heutigen Bledzew ist am 15. Juni 1847 ein Hirsch Hermann Gurau geboren worden, er stirbt am 24. September 1913 in Birnbaum, dem heutigen Międzychód, wo »1895/1910« gewohnt habe. Er wird als »Handelsmann, Kaufmann« neben anderen Guraus in der Liste der Birnbaumer Juden geführt. Als Eltern sind Esther und Hirsch Gurau genannt; als Ehefrau Henriette geb. Levy.32

Auf dem jüdischen Friedhof zu Groß Neuendorf findet sich das Grab eines Herman Gurau33. »Hier ruhet in Gott/ mein lieber Mann/ unser guter Vater/ der Kaufmann/ Herman Gurau«; vom Geburtsjahr ist nur noch der Hinweis auf das 18. Jahrhundert erhalten, das Sterbejahr lautet hier allerdings 1907. In der Quelle heißt es, Herman Gurau habe in Kienitz gewohnt.

Auch wenn es sich bei den oben genannten beiden Herman Guraus offensichtlich um unterschiedliche Personen handelt, gibt es durch Birnbaum eine mögliche Verbindung. Denn im heutigen Międzychód sind nicht nur zahlreiche Guraus belegt34, es galt auch als »die Wiege deutscher Warenhauskultur«, unter anderem weil die bekannten Handelsfamilien Tietz, Joske, Ury und Knopf aus Birnbaum stammen, die Familien Schocken und Wronka aus der Umgebung.35

Und: Der Vorname Sally ist bei mehreren Birnbaumer Juden nachgewiesen, die im Warenhaus-Geschäft tätig waren und deren Geburtsdaten in die Zeit fallen, zu der auch Sally Gurau zur Welt kam - als Abkürzung von Salomon war der Name unter deutsch- und jiddischsprachigen Juden verbreitet, wie die Kaufleute Sally Klopstock, Sally Levinthal und Sally Baumann oder die Handelsmänner Selig Sally Knopf und Sally Michel zeigen, allesamt aus Birnbaum stammend.

Aber zurück nach Letschin. »In Groß Neuendorf und dem nahe gelegenen Letschin gab es erst seit 1853 eine eigenständige jüdische Gemeinde. In der Zeit davor hatten sich die wenigen jüdischen Familien, die hier oder in den umliegenden Dörfern wohnten, den Gemeinden in den nahegelegenen Städten angeschlossen, besonders der in Wriezen (z.B.: Lehmann Baumann, C. Ephraim, Abraham Grünthal, S. Cohn, Salomon Fürstenhain, Witwe Eulenburg). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schlossen sich die in Letschin und den umliegenden Orten wohnenden Juden zu einer zunächst privaten Gemeinschaft zusammen. Die Inschrift auf dem Grabstein von Michael Sperling (geb. 1803 in Bernstein/Neumark) weist diesen als Initiator für die Gründung der offiziellen jüdischen Gemeinde Letschin/Groß Neuendorf und auch des Friedhofs aus. Im Jahr 1855 wurde für die damals noch in Letschin ansässige Gemeinde das Statut beschlossen und genehmigt. Der Synagogenbezirk, für den die Gemeinde zuständig sein sollte, wird darin mit dem ›Polizei-Bezirk des Domainen-Amtes Wollup‹ beschrieben. Mitglieder lebten außer in Letschin und Groß Neuendorf noch in den Dörfern Klein Neuendorf, Kienitz, Gerickenberg, Sophiental und Ortwig… Im Jahr 1881 hatte die jüdische Gemeinde Groß Neuendorf nur noch 14 männliche Mitglieder und war nicht mehr in der Lage, die im Statut vorgeschriebenen 9 Repräsentanten zu stellen. Die Existenz der Gemeinde wurde noch einmal vorübergehend durch Änderung des Statuts gerettet, aber im Jahr 1895 erfolgte auf behördliche Verfügung die Auflösung. Die jüdischen Einwohner in den Dörfern des Amtes Wollup wurden in den Synagogenbezirk Seelow einbezogen.«36

Laut der Ortschronik hat »der Kaufmann Hirsch (Hermann) Guhrau aus Reitwein« 1866 »die Marie Cohn, Tochter des Selig Cohn aus Kienitz« geehelicht. Direkt im Anschluss heißt es: Dem »Hermann Gurau« sei zudem 1896 »ein Sohn mit Namen Martin geboren, der 1902 in der Letschiner Knabenschule eingeschult wurde. Im Schülerverzeichnis steht als Geburtsort Kienitz und als Religionszugehörigkeit jüdisch.«37 

Über Martin Gurau, der am 26. Juni 1896 in Kienitz geboren wurde, wissen wir aus anderer Quelle, dass er im Ersten Weltkrieg am 29. Mai 1918 in Naugard (Nowogard) in einem Feldartillerie-Regiment fiel.38

Ob aber der in der Chronik genannt Hermann Gurau tatsächlich der Gatte der Marie Cohn von 1866 ist, oder aber dass diese beiden tatsächlich die Eltern von Martin Gurau sind, muss aber aufgrund des mit 30 Jahren recht langen Zeitraums zwischen Ehedatum und Geburtsjahr erst einmal offen bleiben. Hinzu kommen die unterschiedlichen Schreibweisen Gurau/Guhrau.39 

Schaut man sich die vorliegenden Daten über die »Letschiner Guraus« an, erscheint eine andere Interpretation möglich - in welcher Hermann und Marie Gurau die Eltern von Sally sind, der 1869 und damit drei Jahre nach deren Hochzeit zur Welt kommt. Helene Gurau ist ausweislich des Totenscheins die Schwester von Sally, ihr Geburtsjahr 1876 passt ebenfalls eher zu Hermann und Marie als Eltern. Martin und Bruno Gurau, geboren 1896 und 1897, könnten Söhne von Emma Gurau sein, die zu dieser Zeit 34 bzw. 35 Jahre alt gewesen ist. Smurri wird 1905 als Sohn des damals 36-Jährigen Sally geboren.

Die von der »Letschiner Chronik« darüber hinaus aufgeführte Johanna Gurau, geborene Mandel, ist am 26. September 1856 geboren und am 3. Juli 1931 gestorben. Wie Hedwig Gurau, geborene Chaim, (24. März 1871 bis 12. August 1933) ist sie auf dem jüdischen Friedhof in Wriezen begraben.40 Auch hier bleibt offen, ob es eine verwandtschaftliche Beziehung zu Sally gibt. Welche Rolle der jüdische Friedhof zu Seelow für die ursprüngliche Letschin-Groß-Neuendorfer Gemeinde nach der Einbeziehung zum dortigen Synagogenbezirk spielte, bleibt offen. Der Friedhof lag bis 1945 in der Hinterstraße, wurde aber »später in Acker umgewandelt und dann als Parkplatz asphaltiert«.41 Allerdings haben in Groß Neuendorf auch nach der Auflösung der Gemeinde 1895 noch Begräbnisse stattgefunden, etwa von Israel Baumgarten (1911), Simon Loewinberg (1903) und der hier schon behandelten Julius Löwenthal (1899) und Herman Gurau (1907).

Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv sind Unterlagen des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg, Vermögensverwertungsstelle ab 1941 zu finden. Sie wurde »1942 in der Finanzverwaltung eingerichtet« und war »eine an den nationalsozialistischen Grundsätzen ausgerichtete Dienststelle. Ihre Aufgaben standen im direkten Zusammenhang mit den Massendeportationen von Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Reichsgebiet. Zuständig war sie hauptsächlich für die Einziehung des Vermögens der in Berlin und Brandenburg ansässigen« Juden und Jüdinnen, Sintizze und Romnja, außerdem von Widerstandskämpfern und anderen verfolgten Personen. »Sie war beteiligt an der umfassenden antisemitischen Verfolgungspolitik und ermöglichte es dem Deutschen Reich sowie einer Vielzahl von Privatpersonen, Gewerbetreibenden und Firmen, sich im Zuge der Deportationen und der Massenauswanderung aus Deutschland zwischen 1933 und 1945 an dem Vermögen der Verfolgten zu bereichern.«42 

Unter dem Nachnamen Gurau finden sich dort Akten zur Enteignung von Alfred, Bruno, Emma, Hanspeter, Jenny, Philippine und Siegfried Gurau; allesamt zur Zeit der NS-Verfolgung in Berlin wohnende Juden. Philippine war in Driesen geboren, dem heutigen Drezdenko in der Woiwodschaft Lebus, nur 30 Kilometer südlich von Międzychód/Birnbaum.

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1 Sigrid Strenge und Marga van Tankeren: Letschiner Chronik, Band V, Letschin 2011, S. 103f.
2 LC II, 98
3 Klaus Scheurenberg: Ich will leben. Ein autobiografischer Bericht, Berlin 1982, S.13.
4 zur Lage der Gebäude im KZ: https://www.ghetto-theresienstadt.de/terezinstadtplan.htm 
5 https://www.holocaust.cz/en/database-of-digitised-documents/document/87574-gurau-selig-death-certificate-ghetto-terezin/ 
6 https://www.holocaust.cz/en/database-of-digitised-documents/document/89068-rosenthal-helene-death-certificate-ghetto-terezin/ -  siehe auch: https://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=1481798 
7 LC V, 103.
8 LC II, 98. Die Anzeige ist in LC V, 106 dokumentiert. Das Warenhaus bot unter anderem Anzugstoffe, Schuhe, Kinderwagen und Waschkörbe feil.
9 Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Freitag, 12.04.1935, Seite 20. Siehe auch: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/item/IXEZV7Q6X4YPWLVXKEU7TSYKTB2H726W?query=gurau+letschin&hit=5&issuepage=20 
10 Es handelte sich um Nr. 12, vgl. LC V, 104. Das Gebäude hat den Krieg offenbar nicht überlebt; heute befindet sich von der Straße leicht nach hinten versetzt ein Einfamilienhaus unter Nr. 12a.

11 In LC V, 105 wird dies Smurri Gurau zugeschrieben, es bleibt unklar, ob beide das Planengeschäft bewerkstelligten oder nicht.

12 LC II, 98.

13 LC II, 101.

14 https://www.boersenblatt-digital.de/pageview?tx_dlf[id]=4447&tx_dlf[page]=42# 

15 https://blha-recherche.brandenburg.de/archivplansuche.aspx?ID=1129917 

16 LC V, 104f.

17 LC II, 20.

18 LC II, 95. Mit Abbildung von Engwicht auf seinem Hof um 1940.

19 LC II, 67f.

20 Im Verzeichnis der Birnbaumer Juden (heute Miedzychod, etwa 120 Kilometer östlich von Letschin), taucht ein 1853 in Sydowswiese geborener Louis Löwenthal auf, der als Kaufmann 1882 heiratet und 1911 verstirbt; als Kinder ist unter anderem die 1888 geborene Lucia Löwenthal aufgeführt, die einen Paul Scheurenberg geheiratet habe. Das stimmt mit den Angaben von Klaus Scheurenberg überein. Auf dem jüdischen Friedhof in Groß Neuendorf ist ein Julius Loewenthal beerdigt; geboren a 24. Dezember 1825 in Obersitzko (heute Obrzycko, etea 170 Kilometer östlich von Letschin). Julius Loewenthal starb laut Grabstein am 27. November 1899 in Sophienthal. Vgl. Brigitte Heidenhain: Anlage des Jüdischen Friedhofs in Groß Neuendorf, in: Jüdische Friedhöfe in Brandenburg, Forschungsprojekt der Uni Potsdam (Online, abgerufen 13.10.2024). Es ist sehr naheliegend, dass zwischen Louis und Julius familiäre Bande bestehen; vom Alter her könnte Julius der Vater von Louis sein.

21 

22 Klaus Scheurenberg: Ich will Leben. Ein autobiografischer Bericht, Berlin 1982, S.10ff.

23 https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/en1028834 

24 LC V, 105.

25 https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/item/BJAPWM23RT6JNGIZ7XYDGDTJFYVGP4LE?issuepage=26 

26 https://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=8504331

27 LC V, 105.

28 https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/en1064266 

29 https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/80559-gurau-emma-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/ - siehe auch: https://www.ushmm.org/online/hsv/person_view.php?PersonId=1475576 

30 https://digital.zlb.de/viewer/image/34457317_1921/211/ 

31 https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/en1095552 

32 http://www.luckauer-juden.de/birnbaum.html 

33 vgl. Brigitte Heidenhain: Anlage des Jüdischen Friedhofs in Groß Neuendorf, in: Jüdische Friedhöfe in Brandenburg, Forschungsprojekt der Uni Potsdam (Online, abgerufen 13.10.2024). Dort wird das Grab von Hermann Gurau mit der Nr. 33 aufgeführt. 

34 http://www.luckauer-juden.de/birnbaum.html 

35 https://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article103489464/Die-Wiege-der-Kaufhaeuser-steht-in-Birnbaum.html 

36 Heidenhain: Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Groß Neuendorf, ebenda.

37 LC V, 103.

38 Gefallenenmeldung Nr. 1195, in: Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914 - 1918 : ein Gedenkbuch / hrsg. vom Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten, Berlin 1932, S. 295.

39 Die Schreibweise von Herman, Herrmann, Hermann variiert ebenfalls, auszugehen ist von Übertragungsungenauigkeiten.

40 Brigitte Heidenhain: Juden in Wriezen, Potsdam 2007, Listen der Grabstellen, S.162.

41 https://www.moz.de/lokales/seelow/juden-in-seelow-plan-fuer-friedhofnbsp-wie-die-stadt-an-einstige-mitbuerger-erinnern-will-73688287.html 

42 https://blha.brandenburg.de/index.php/einordnung-und-glossar/