Oda, Radomeer und der Wels
Sommer 1747. König Friedrich II. will das von selbstbewussten wendischen Fischern bewohnte untere Oderbruch trockenlegen. Eine Transformation – so würde man heute sagen.
Das obere Oderbruch vor der Trockenlegung im 18. Jahrhundert war eine faszinierende Flusslandschaft. Aus archäologischen Funden und historischen Quellen wissen wir einiges über diese Zeit:
Die Region war bereits in der Steinzeit besiedelt, wie Funde von Siedlungsplätzen auf den höher gelegenen Horsten (natürliche Erhebungen) belegen. Diese Horste waren wie Inseln in der regelmäßig überfluteten Flussaue.
Im Mittelalter entwickelte sich eine spezielle Wirtschaftsform: Die Menschen nutzten die natürliche Dynamik der Oder. Die regelmäßigen Überflutungen machten das Land sehr fruchtbar für Weidewirtschaft. Die Bewohner betrieben extensive Viehzucht, vor allem mit Rindern und Pferden. Außerdem war die Fischerei ein wichtiger Erwerbszweig.
Die Siedlungen konzentrierten sich auf die Randlagen des Bruchs und die erwähnten Horste. Wichtige mittelalterliche Orte waren beispielsweise Wriezen und Freienwalde. Das Kerngebiet des Oderbruchs selbst war eine weitgehend unzugängliche Sumpf- und Auenlandschaft mit verzweigten Flussarmen, Altwassern und ausgedehnten Erlen-Eschen-Wäldern.
Die Region stand unter wechselnder Herrschaft der askanischen Markgrafen, des Bistums Lebus und verschiedener Adelsgeschlechter. Interessant ist, dass es bereits vor Friedrich II. Versuche gab, Teile des Bruchs zu entwässern - allerdings in viel kleinerem Maßstab und mit begrenztem Erfolg.
Die häufigen Hochwasser stellten für die Bewohner eine ständige Bedrohung dar. Besonders verheerend waren die Überschwemmungen in den Jahren 1709 und 1736, die wohl auch mit den Anstoß für die späteren umfassenden Meliorationsarbeiten unter Friedrich II. gaben.
Die vorfriderizianische Zeit im Oderbruch zeigt exemplarisch, wie Menschen über Jahrhunderte hinweg Strategien entwickelten, um mit einer dynamischen Flusslandschaft zu leben und sie zu nutzen – bevor dann im 18. Jahrhundert der radikale Umbau dieser Landschaft erfolgte.
Norman Ohlers wunderbarem Roman »Die Gleichung des Lebens«, der auch über die Konflikte um die Trockenlegung erzählt, endet mit den Worten: »Die Kultur der Wenden und Fischer des Bruches löste sich auf. Die alte verwunschene Welt von Radomeer, Veit, Bartok und Oda versank geradeso als habe das Jäckelsche Loch alles verschluckt, wofür einst so gekämpft worden war. Rumi, der mit Euler nach Berlin zurückgekehrt war, sah Oda nie wieder. Oder vielleicht doch, eines Tages, in einer anderen Welt, die tiefer ist als der Tag, alle Gleichungen endgültig aufgehen lässt und die Seelen wieder vereint.«
Die Veränderungen der Sozialstruktur im Oderbruch durch die Trockenlegung lassen sich anhand einiger konkreter Zahlen nachzeichnen, wobei die Datenlage nicht für alle Aspekte gleich gut ist:
Der deutlichste Anstieg ist für die Zeit zwischen 1755 und 1800 dokumentiert. Die Einwohnerzahl stieg in diesem Zeitraum von etwa 20.000 auf rund 35.000 Menschen. Dieser Zuwachs basierte sowohl auf Zuwanderung als auch auf natürlichem Bevölkerungswachstum.
Die Fischer bildeten vor der Trockenlegung eine bedeutende Berufsgruppe. Für die 1740er Jahre sind etwa 350 Fischerfamilien im Oderbruch dokumentiert. Nach der Trockenlegung sank ihre Zahl dramatisch – bis 1800 auf unter 100 Familien. Viele ehemalige Fischer mussten sich neue Erwerbsquellen suchen, meist in der Landwirtschaft.
Auch David Blackbourn: »Die Eroberung der Natur« thematisiert die Konflikte, die dem vorausgegangen waren: Die Arbeiten beim Deichbau »kamen in den Jahren 1750 und 1751 schlecht voran, da nicht mehr als 700 statt der erwarteten 1500 bis 1600 Bauarbeiter verfügbar waren. Der langsame Fortgang des Projekts setzte dieses den Naturelementen aus: im Winter der Eisbildung, im Frühjahr dem Hochwasser in Folge der Eisschmelze, das halbfertige Deiche durchbrach und zu Überschwemmungen führte. Alt-Wriezen hatte in diesen Jahren zweimal unter dem Hochwasser zu leiden. Häufig unzuverlässige Arbeiterkolonnen, die unter entsetzlichen Bedingungen arbeiteten und mit ihrer Entlohnung unzufrieden waren, sahen sich zudem einem passiven Widerstand der Anwohner gegenüber. Wenn deren Petitionen unbeantwortet blieben, verweigerten sie nicht selten die Lieferung von Holz, das für die Faschinen beim Bau der Deiche benötigt wurde, oder sie stellten keine Boote für den Transport von Material zur Verfügung. Es kam sogar zu Sabotageakten. Zu den Befürchtungen der ansässigen Bevölkerung und der Erbitterung gegenüber dem weiter reichenden Ziel des Projekts kamen noch die bei der Polizei angezeigten Diebstähle von Nahrungsmitteln, Heu und Holz durch Kanalarbeiter. Im Juli 1751 berichtete ein entnervter Beamter wieder einmal über ›eine große Prügelei‹ zwischen Fuhrleuten und Einwohnern von Güstebiese.«
Aber zurück zu den Veränderungen, die ausgelöst wurden. Ein interessantes Phänomen war die Verlagerung ganzer Dörfer von den Randlagen in die neu gewonnenen Flächen. Dokumentiert sind mindestens 12 solcher Dorfverlagerungen, bei denen die alten Siedlungsstandorte aufgegeben und neue Dörfer in den trockengelegten Gebieten gegründet wurden. Diese Verlagerungen betrafen jeweils zwischen 10 und 30 Familien pro Dorf.
Die preußische Verwaltung siedelte gezielt neue Kolonisten an. Zwischen 1753 und 1780 wurden etwa 1.200 Kolonistenfamilien ins Oderbruch geholt, hauptsächlich aus anderen deutschen Territorien, aber auch aus Böhmen und Sachsen. Die neu gewonnene Ackerfläche betrug etwa 32.500 Hektar. Allerdings sollte man bei diesen Zahlen beachten, dass sie aus verschiedenen historischen Quellen stammen und möglicherweise nicht vollständig sind. Sie geben aber einen guten Eindruck von der Größenordnung der sozioökonomischen Transformation dieser Region.
Ein interessanter Aspekt, der oft übersehen wird, ist die soziale Mobilität: Nicht alle ehemaligen Fischer wurden automatisch zu erfolgreichen Landwirten. Viele mussten zunächst als Landarbeiter auf den neuen Vorwerken arbeiten, bevor sie eigenes Land erwerben konnten. Dieser Prozess der sozialen Umschichtung erstreckte sich über mehrere Generationen.