»Slawen« und der Osten

Migration, die bis heute prägt: Im 7. und 8. Jahrhundert zogen Menschen in beträchtlicher Zahl aus der Region des heutigen Belarus und der Zentralukraine nach Westen – bis in den heutigen Osten Deutschlands. Über eine pragmatische, egalitäre Graswurzelbewegung.

»Slawen« und der Osten
Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt

Im 6. Jahrhundert erwähnt ein oströmischer Historiker erstmals die »Sklabēnoi« – die Slawen. Die Bezeichnung ist heute ethnisch, national und mit Blick auf Identitätsvorstellungen stark von Kontroversen des 19. und 20. Jahrhunderts geformt. »Die Vorurteile ihrer westlichen Nachbarn, die Slawen tendenziell als kulturell unterlegen betrachteten, verstärkten das Gefühl der slawischen Gemeinsamkeit. Die in diesem Artikel behandelte Frage nach den slawischen Ursprüngen spielte eine entscheidende Rolle in den ideologischen Debatten über die Einheit und Bedeutung der Slawen. Daher ist es wichtig, den Begriff in der wissenschaftlichen Forschung präzise zu verwenden«, heißt es in einem unlängst in »Nature« erschienenen Beitrag, der für viel Aufmerksamkeit sorgte. 

Das hat einerseits wissenschaftliche Gründe, auf die gleich zu sprechen gekommen wird. Andererseits steckt in diesen wiederum eine auch politisch interessante Aktualität: »Menschen, deren Vorfahren seit mehreren Generationen in der Region östlich von Elbe und Saale leben, haben demnach ein Erbgut mit rund 50 Prozent slawischer Herkunft. Der Anteil in Westdeutschland ist deutlich geringer«, so fasst diesen Aspekt der Studie die »Süddeutsche Zeitung« zusammen. Sie zeige »erneut, wie sehr die heutige europäische Bevölkerung das Ergebnis verschiedenster Migrationswellen ist – und wie wenig die Grenzen von Nationalstaaten mit den genetischen Wurzeln ihrer Einwohner zu tun haben. Die heutigen Europäerinnen und Europäer sind eine Mischung, die durch Wanderungsbewegungen entstanden ist, die teils Jahrhunderte, teils bereits viele Jahrtausende zurückliegen.«

Dass die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. in Mittel- und Osteuropa von grundlegenden kulturellen und politischen Umwälzungen geprägt war und diese Umbruchphase mit dem Auftreten von Gruppen zusammenfiel, die als Slawen bezeichnet wurden, ist aus schriftlichen Quellen anderer bekannt und hat sich auch in ähnlichen archäologischen Horizonten niedergeschlagen. Dennoch birgt die Geschichte der Slawen des europäischen Mittelalters weiter viele Rätsel. Auch deshalb, weil die praktizierte Feuerbestattung, die einfachen Bauten und schlichten Töpferwaren sowie das weitgehende Fehlen eigener schriftlichen Aufzeichnungen wenig Fundmaterial und Quellen hinterlassen haben. In der Forschung gibt es deshalb weiter Diskussionen darüber, »ob sich dieser archäologische Horizont durch Migration, Slawisierung oder eine Kombination aus beidem ausbreitete«. 

Hier bringt nun besagte Studie neue Erkenntnisse auf Basis von »Genomdaten von 555 Individuen aus der Antike, darunter 359 Proben aus slawischen Kontexten, die bis ins 7. Jahrhundert n. Chr. zurückreichen«. Diese »Daten belegen eine großflächige Bevölkerungsbewegung aus Osteuropa im 6. bis 8. Jahrhundert, die mehr als 80 Prozent des lokalen Genpools in Ostdeutschland, Polen und Kroatien ersetzte.« Anders gesprochen: Im Siebten und achten Jahrhundert zogen Menschen in beträchtlicher Zahl aus der Region des heutigen Belarus und der Zentralukraine nach Westen bis in den heutigen Osten Deutschlands. Dort wurde niemand verdrängt, nach dem Zusammenbruch des Königreichs der Thüringer Mitte des sechsten Jahrhundert war die Gegend nur noch schwach besiedelt, viele derer, die hier zuvor siedelten, waren wahrscheinlich selbst Richtung Westen gezogen.

Nach dem Niedergang des Thüringer Königreichs seien »mehr als 85 Prozent der Vorfahren in dieser Region auf Neuankömmlinge aus dem Osten zurückzuführen.« Es scheinen seinerzeit »ganze Familien und Gemeinschaften umgesiedelt zu sein und sich integriert zu haben«, heißt es beim Max-Planck-Institut zur Migration aus dem Osten. Und sie veränderten die Welt, in die sie kamen: »In Ostdeutschland brachten die Migranten eine neue Form der sozialen Organisation mit. Diese zeigte sich in der Bildung großer patrilinearer Stammbäume und stellte einen starken Kontrast zu den viel kleineren Familieneinheiten dar, die für die vorangegangene Völkerwanderungszeit typisch waren. In Kroatien hingegen scheinen die frühen Einwanderergemeinschaften eher die traditionellen Sozialstrukturen der lokalen Bevölkerung beibehalten zu haben.«

Als ein »einheitliches Ereignis, bei dem ein einzelnes Volk als Ganzes wanderte«, dürfe man sich den vielschichtigen, lang andauernden Prozess nicht vorstellen, so die Anthropologin Zuzana Hofmanová, die führend an der Studie mitwirkte. Eher passe das Bild eines Mosaiks »verschiedener Gruppen, von denen sich jede auf ihre eigene Weise anpasste und integrierte – was darauf hindeutet, dass es nie nur eine ›slawische‹ Identität gab, sondern viele«. Dennoch löse die Studie »das historische Rätsel um die Entstehung einer der weltweit größten Sprach- und Kulturgemeinschaften«, so das Max-Planck-Institut – und sie eröffne »neue Perspektiven darauf, warum sich slawische Gruppen so erfolgreich verbreiteten und warum sie so wenige Spuren in der historischen Überlieferung hinterließen«. 

Die »slawische« Migration stelle »ein grundlegend anderes Modell der sozialen Organisation dar«, eine Art »Graswurzelbewegung, oft in kleinen Gruppen oder temporären Allianzen, die neue Gebiete besiedelten, ohne eine feste Identität oder Elitestrukturen aufzuzwingen«. Ihr Erfolg sei also »möglicherweise nicht auf Eroberungen zurückzuführen, sondern auf einen pragmatischen, egalitären Lebensstil, der die schweren Bürden und Hierarchien der untergehenden römischen Welt vermied. An vielen Orten boten die Slawen eine überzeugende Alternative zu den um sie herum zerfallenden Reichen. Ihre soziale Widerstandsfähigkeit, ihre relativ einfache Subsistenzwirtschaft und ihre Anpassungsbereitschaft befähigten sie besonders gut, sich in Zeiten der Instabilität – sei es aufgrund von Klimawandel oder Pandemien – zu behaupten.« Worin man dann auch wieder eine politisch interessante Aktualität sehen könnte.